Karl Hans Müller über Brockmanns „Wasser“
DENN DA IST KEINE STELLE, DIE DICH NICHT SIEHT
(Rainer Maria Rilke)
Dem Spiel der Wellen, der willkürlich wechselnden Oberflächen und Volumen zusehen heißt, seinen Willen vergessen, ein Zustand der Wehrlosigkeit und des Gegebenseins an den Augenblick, der Selbstvergessenheit.
Aber in dem Moment, in dem das Spiel der Wellen zum Gegenstand der Betrachtung, gar der Selbstbetrachtung wird, kommt die Reflektion ins Spiel, die sich nahtlos und unmerklich mit den Bewegungen und Lichtreflexen der Wellen mischt: es wird zum Motiv. Dann ist es aus mit der Selbstvergessenheit des Willens.
Bevor irgendein Betrachter die Bilder sehen kann, haben die Bilder durch das, was die Künstlerin in sie eingearbeitet hat, den Betrachter schon gesehen, sie haben sein Sehen antizipiert und reflektieren das Gesehenwerden in das Auge des Betrachters zurück, aber nicht wie ein Spiegel, sondern angereichert mit einem eigenen Wollen.
Wenn es überzeugend gemacht ist, wie in diesem Fall, geht das Wollen des Bildes ohne Widerstand in deine Seele hinein – es ist wie von dir selbst gewollt, von dir selbst gesehen, denn das Wollen des Bildes ist nichts anderes als das: ein Gesehenwerden-wollen, ein Angebot. Das hat eine Unausweichlichkeit: wann immer du das Bild siehst, was immer du siehst, es ist das was du sehen sollst. Du siehst immer nur dein Sehen.
Die Bilder saugen deinen Blick nicht nur in die Verwirbelungen des Wassers, sondern nahtlos und unmerklich auch in die Strudel des Erkennens hinein.
Oktober 2006