LUST FOR LIFE: DER TOD
In einem Hotel sah ich vor ein paar Jahren ein Rentnerpaar, das gegessen hat, als ginge es um Leben und Tod. Schon während des Hauptgangs holten sie den Nachtisch vom überreichlichen und ständig frisch aufgefüllten Eisbuffet. Die beiden hatten dann aber ihre liebe Not, weil sie das Eis in den Dessertschüsseln so aufgehäuft hatten, dass es, während sie noch das Fleisch in sich reinschaufelten, zu schmelzen begann, so dass sie mit einer Hand die Gabel zum Mund führten und mit der andern das triefende Eis auffingen, um es wieder auf den Eisberg zu löffeln. Die Koordination war durchaus schwierig, was man daran sehen konnte, dass die Gabel manchmal nicht auf Anhieb im Mund landete, wenn das Eis gerade zu viel Aufmerksamkeit verlangte … Mit ebensolcher Gier reißt mein Vater seinen Schnabel möglichst weit auf, damit ihm bloß kein Kuchenkrümel entwischt, nur dass es bei ihm tatsächlich um Leben und Tod geht.
Read MoreViel darf er nicht mehr abnehmen, dann ist Exitus. Gestern hat er das Szenario schon mal vorweggenommen, indem er mir bei meiner Ankunft sofort aufgeregt von einer Beerdigung erzählte, auf der er am Morgen gewesen sei. Ich hatte veranlasst, dass er Morphium bekommt, und jetzt habe ich den Salat. Er fantasiert. Aber er weiß es. Händeringend sucht er nach seinem Verstand, sagt: „Du darfst jetzt nicht die Geduld mit mir verlieren“, ich erkläre ihm, dass er Morphium bekommt und die Beerdigung ein Traum war, „ja“, sagt er, „das glaube ich auch, aber wie bin ich dann wieder hierher gekommen?“ Er gibt nicht auf, will wissen, was es mit der Beerdigung auf sich hat, also versuche ich es anders herum und frage: „Wer wurde denn beerdigt?“ Da fährt er mich wütend an: „Jetzt fang du nicht auch noch mit dem Blödsinn an!“ Kleinlaut rudere ich zurück und suche weiter nach dem Berührungspunkt zwischen seiner Fantasie und der Wirklichkeit. Bis er mir erzählt, dass er sich bei der Beerdigung so fremd gefühlt hat … und da hab ich’s: Am Morgen hatten die Schwestern ihn in den Gemeinschaftsraum geschoben, wo er noch nie war und plötzlich gewahr wurde, in was für einem Irrenhaus er sitzt. Er hatte sich völlig fremd und unglücklich gefühlt, wollte weg, aber die Schwestern haben sein Gejammer ignoriert und ihn unter all den stumpfsinnig vor sich hinstarrenden Alten sitzen lassen. „Und da hast du dich wie auf einer Beerdigung gefühlt“, frage ich. „Nein“, sagt er, „wie nach der Beerdigung.“
Ich lasse ihn aus dem Bett holen und fahre ihn im Rollstuhl nach draußen. „Langsam“, bettelt mein Vater, „langsam“, obwohl ich schleiche, weil der Rollstuhl ein Modell aus dem 17. Jahrhundert ist und eigentlich nur noch rückwärts fährt. Aber er hat Angst, dass die Wirklichkeit zu schnell an ihm vorbeirauscht und ihm wieder entgleitet. Ich auch. Ich lasse mich auf einer Bank nieder und parke ihn neben mir. Er nestelt an seinen Knöpfen, ich helfe ihm beim Schließen, dann knöpft er sie wieder auf, dann wieder zu, dann nimmt er zwei Knopflöcher und versucht sie miteinander zu verschließen, er gerät in Rage, weil es nicht geht. Abrupt wendet er sich zu mir und reißt die Augen auf: „Mutti!“ Der Arzt hat mir die Entscheidung überlassen, ob das Morphium abgesetzt werden soll. Ich glaube, er hat nicht mehr viel Interesse. Mein Vater stirbt sogar ihm zu langsam. Aber vielleicht ist es auch generell so, dass man sich bei so alten und hinfälligen Kandidaten nicht mehr übertrieben viel Mühe gibt. Mein Bruder denkt, mein Vater übertreibt und sagt, dass manche Patienten nur Morphium kriegen, damit die Angehörigen beruhigt sind.
„So komm“, sagt mein Vater dann entschlossen und schiebt die Decke von seinen Beinen, „ich will jetzt mal eine Runde gehen.“ Ich lege sie zurück auf seinen Schoß und schiebe ihn ins Zimmer. Auf dem Weg schreit er um Hilfe, weil er denkt, dass er geht, und Angst hat zu fallen.
Manchmal wünschte ich, das hier wäre nur ein überlanger, miserabler Theaterabend, nach dem ich mich besaufen gehen kann. Anschließend würde ich den Regisseur verprügeln und mein Geld zurückverlangen. Aber bei diesem Stück gibt es keinen, bei dem man sich beschweren kann.